DAS HOSPITALSTRAßE 46 ALPHABET


T wie Turbulenzen

Ausschnitt aus Der Patriot Nov. 1921Nach 25 Jahren kontinuierlichem wirtschaftlichen Aufstieg und Erfolg, die Westfälische Metall-Industrie-Aktiengesellschaft (WMI) war längst den industriellen Kinderschuhen entwachsen, kam es – heute würde man sagen – zum unternehmerischen „Super-Gau“! Der seit 1916 vom Aufsichtsrat mit Alleinvertretungsvollmacht ausgestatte Direktor Sally Windmüller wurde 1920 vor dem Landgericht Paderborn wegen Wirtschaftsvergehen angeklagt und verhaftet. Elf Anklagepunkte, unter anderem Betrug, Untreue, Aufsichtsratsvergehen und Preistreiberei wurden ihm vorgeworfen. Neben Windmüller waren sieben Angeklagte (davon fünf „angesehene“ Lippstädter) in den Vorwurf von Wirtschaftsvergehen eingebunden. Letztendlich wurde Windmüller vom Betrug und vier weiteren Anklagepunkten freigesprochen, in den übrigen sechs dann wegen Untreue und Beihilfe zur Untreue mit einem Jahr und acht Monate Gefängnis sehr hart verurteilt. Die dazu kommenden Geldstrafen, die Übernahme der Gerichtskosten und Gewinnrückzahlungen (eigenes Verfahren) bewegten sich im Bereich von 800tausend Mark und ruinierten den damals 64jährigen und seine Familie ökonomisch vollständig. Anklagepunkte, Prozessverlauf, merkwürdige Zeugenaussagen und das Strafmaß selbst, bleiben für eine detaillierte rückblickende Bewertung interessant. Alleine die damalige juristische Richtersicht, hier eine wörtliche Sequenz im Urteilsspruch 1921: „denen [den Angeklagten] die Möglichkeit gelassen werden soll, wieder nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft zu werden“, zeigt damalige Weltanschauungen in der juristischen Bewertung. Würden Maßstäbe an Wirtschaftsvergehen wie von Windmüller in ähnlicher Weise in der heutigen Rechtsprechung angelegt, wäre es nicht unwahrscheinlich, dass in der Dieselaffäre hohe Anteile des Managements der Deutschen Automobilindustrie im Gefängnis säßen…

Die folgenden Jahre waren für den Bestand der WMI äußerst kritisch. Die aktuell dazu zugängliche Quellenlage ist leider dürftig, obwohl eine Betrachtung dieser Jahre zwischen den Kriegen wirtschaftshistorisch von großem Interesse wäre! Sally Windmüller wurde Ende 1921 im Aufsichtsrat der WMI durch einen neuen Vorsitzenden, Dr. Hans Gladischefski, (verließ die WMI 1946) ersetzt. Windmüller zog nach Berlin und wohnte dort bis zu seinem Tode 1930. Die Übernahme der Aktienmehrheit durch die Industriellenfamilie Oskar Eduard Hueck bis 1923 (was mit den WMI-Altaktionären nicht spannungsfrei verlief) führte langsam wieder zu Solidität im Unternehmensfortbestand, auch für den Standort Hospitalstraße. Das Ganze ist ein wirtschaftshistorisch hochinteressantes Forschungsfeld und Beispiel für industriebezogene Entwicklungen in der Weimarer Zeit!