Eines der ältesten Häuser Lippstadts träumt fast vergessen durch die Zeit. Dieses Haus scheint sich im romantischen, liebevoll gepflegten Stiftspark regelrecht hinter der mächtigen Ruine der Stiftskirche und den hübschen Fachwerkgebäuden des heutigen Damenstifts zu verstecken. Dabei wüsste gerade dieses Gebäude so viel zu erzählen.
Gelegenheit hat es dafür allerdings kaum, denn seine Türen sind verschlossen. Die Steine jedoch könnten rufen: Wanderer, stehst du an diesem Ort, gedenke, vor dir liegen die Wurzeln dieser Stadt!
Denn genau hier, an diesem Ort, befand sich einst der Stammsitz der Edelherren zur Lippe, der Hermelinghof. Bernhard II. hatte ihn jedoch aufgegeben, nachdem seine Besitzungen durch die Auseinandersetzungen zwischen Heinrich dem Löwen und Kaiser Barbarossa, in denen auch er selber verwickelt war, in Mitleidenschaft geraten waren. Bernhard war auf die Burg seines Cousins nach Rheda gezogen, die dieser ihm vererbt hatte, und baute diese als neuen Familienstammsitz aus.
Gleichzeitig begann er an der Lippe mit gewaltigen Bauvorhaben. Der Stadtgründung Lippstadts und der damit verbundenen ökonomischen Sicherung durch die Handelskontrolle am Lippeübergang, folgte alsbald die Große Marienkirche, und auf dem Gelände seiner Burg gründete Bernhard II. ein Nonnenkloster.
Die dazugehörige Kirche – die heutige Stiftsruine – war eigentlich eine Doppelkirche. Im Westen befand sich die etwas kleinere Klosterkirche, im Osten schloss sich die größere Gemeindekirche an.
Einiges deutet sogar darauf hin, dass Bernhard II. im unteren Geschoss der Klosterkirche ursprünglich die Familiengrablege zur Pflege des Totengedächtnisses seiner Familie vorgesehen hatte. Dazu kam es dann zwar nicht mehr, doch bis ins 19. Jh. blieb die Kirche eine der wichtigsten und am reichsten ausgestatteten Lippstädter Kirchen, sie war die Kirche der jeweils Herrschenden.
Das dazugehörige Kloster schloss sich westlich der Kirche an, rund um einen großen, doppelgeschossigen Kreuzgang. Der Kreuzgang war ein gewölbter, zum quadratischen Innenhof offener Umgang, von dem aus sich die angrenzenden Gebäude erschlossen. Anhand der Pflasterungen im Stiftsgarten lässt sich die Größe des Kreuzganges bis heute gut ablesen.
Auch der sogenannte Remter war direkt vom Kreuzgang aus zugänglich. Reste der Gewölbebögen des Kreuzganges haben sich bis heute an der Fassade erhalten.
Der Remter ist das letzte zusammenhängend erhaltene Gebäude des von Bernhard II. begründeten Marienklosters. Einer späteren Überlieferung zufolge befand sich im unteren Bereich der Speisesaal der Nonnen – daher kommt auch der Name „Remter“ – das Obergeschoss könnte ursprünglich als Schlafsaal genutzt worden sein. Ob das Gebäude schon von Beginn an so genutzt wurde, wissen wir nicht.
Immerhin haben sich (hoffentlich noch) einige Reste von gotischer Rankenmalerei sowie von mittelalterlichen Böden erhalten. Bei einer aufwändigen baugeschichtlichen Untersuchung 1995 wurden sie dokumentiert. Ansonsten bietet das Innere, wie es sich heute dem zufälligen Besucher präsentiert, Anlass zu vielerlei Spekulationen über die wechselreiche Baugeschichte.
Seine Türen sind zwar meist verschlossen, aber im Rahmen einer Stadtführung darf man manchmal einen kurzen Blick in sein geheimnisvolles Innere werfen. Wer nicht gleich über abgestellten modernen Krempel stolpert, lässt seinen Blick zunächst über die frühgotischen Fenster aus der Zeit Bernhard II. schweifen. Dann darf man sich wundern über Türen hoch oben an der Wand, zu denen man nur über eine Leiter gelangen könnte, und über so manche geschnitzten Holzkunstwerke und kunstvolle Steinmetzarbeiten, die zweifellos aus der Stiftsruine stammen.
Jeder weitere Blick wird als deprimierende Lehrstunde für Verlust von Kulturgut spürbar: Baumaterial, Reststeine und Möbel aus der Stiftskirche – das meiste davon im Zerfallsstadium. Wie werden wohl die 1995 noch vorhandenen gotischen Malereireste und die mittelalterlichen Fußböden aussehen?
Hineingehen darf der Besucher nicht, da größere Bereiche als einsturzgefährdet gelten.
Wie bitte? – Einsturzgefährdet? – Handelt es sich doch um eines der ganz wenigen erhaltenen Gebäude aus der ältesten Häuser Lippstadts, das sich irgendwie in die Gegenwart gerettet hat. Es ist darauf zu hoffen, dass ihm bald aus seinem Dornröschenschlaf herausgeholfen wird.
Seit der turbulenten Gründerzeit um 1200 durchstand dieses Gebäude die Geschichte Lippstadts, jede Epoche ist für sich hochinteressant. Im bauhistorischen Sinne kann der Stiftsremter seine Geschichte vom wichtigsten hochmittelalterlichen Klostergebäude Lippstadts bis zu seiner späteren Nutzung als Scheune und Stall erzählen, zeigt greifbar Vergänglichkeit von Wertschätzung.
In den 80er Jahren wäre der Remter beinahe abgerissen worden. Im letzten Augenblick erkannte man jedoch seine historische Bedeutung. Laut „Patriot“ vom Mai 1989 sollte er schließlich ein Museum werden. Die Umsetzung scheiterte an damals 200 000 DM, die nicht gegenfinanziert werden konnten. Seitdem vergilben die vielversprechenden Pläne als Schubladenkonzept, und Lippstadts historisches Kleinod wartet im Kampf gegen den Verfall dringend auf öffentliche Aufmerksamkeit.
Vielleicht steht ja eines nachts in der Geisterstunde Edelherr Bernhard II. auf der alten Kanzel der Stiftskirche – die übrigens auch im Remter sein soll – vor seinen Augustinerinnen und berät mit Priorin und adligen Stiftsdamen, ob man nicht mal Stadtverwaltung, Stift und Denkmalbehörde wachrütteln sollte: Es wäre nötig!